Monsters of Thought

Sidonie Bilger setzt sich nicht nur mit ihrem minimalistischen, ökologisch extrem bewusstem Lebensstil für den Wandel der Gesellschaft ein, sondern auch mit ihrer Kunst. Denn sie malt nicht nur dystopische, schockierende und fantastische Szenen, sondern breitet diese auch gerne auf die gesamte Wand oder riesige Leinwände aus – symbolisch für die zerstörerische Ausbreitung des Menschen. Sie prangert die systematische Zerstörung von Natur durch das kolonialistische, ausbeuterische, patriarchale System an, indem sie auf malerisch-ästhetische – manchmal zarte, manchmal rohe, angsteinflößende – Art auf die Absurdität des menschlichen Verhaltens, seine eigene Lebensgrundlage zu zerstören, hinweist. Im Interview erzählt sie wie sie das macht, von ihrem Weg zur Kunst, schweren Niederlagen und wie sie gelernt hat sich selbst zu vertrauen.

Was zeigst du aktuell in der Galerie Puzic?
Ich stelle in der Galerie Puzic eine Serie von Zeichnungen und Pastell-Malereien aus und werde im Laufe der Ausstellung eine großformatige Wandzeichnung in Form einer Live-Performance anfertigen. Meine Arbeit dreht sich im Wesentlichen um die Vorstellung von Landschaften und den Platz, den wir Menschen darin einnehmen. Ich stelle mir gerne vor, dass die Natur durch meine Arbeit in gewisser Weise ihre Rechte zurückfordert, indem sie in Räume eindringt und Räume dekonstruiert. Wann immer möglich, wie auf der Galeriewand, breiten sich meine Zeichnungen durch einen starken körperlichen Einsatz aus, bis sie in alle Dimensionen vordringen zu scheinen, was mich völlig einnimmt. Diese Ausbreitung symbolisiert die Zerstörung der Natur und meine eigene Betroffenheit. Zum Beispiel sind zwei Pastell-Malereien in der Ausstellung, mit dem Titel „décor habité“, ein direkter Verweis auf das Thema der „decolonial ecology“, die auf der These beruht, dass die ökologische Krise auch eine „Krise der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und des politischen Willens“ ist. Eine Krise, die durch kolonialistische, rassistische und patriarchale Unterdrückungssysteme verursacht und angeheizt wird. Meine jüngste Forschung konzentriert sich auf das Thema der Katastrophen und dem, des Sublimierens der „Monster des Denkens“ und hinterfragt die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse die der Mensch gegenüber seiner Umwelt, aber auch zwischen den Menschen selbst, unterhält. („Monster des Denkens“ ist ein Bild, das ich für all unser Fehlverhalten, kognitiven Verzerrungen, falsche Verurteilungen oder Wahnsinn nutze.)

Da du sehr unterschiedliche Themen bearbeitest – angefangen mit Landschaften und Selbstporträts über Bilder wie „Le Bestiaire“ (Die Bestie)  bis hin zu Pferden und fantastischen Wäldern mit dystopischer Atmosphäre – stellt sich die Frage, ob du dich mit deinen Bildern nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Mensch weiterentwickelst? Was inspiriert dich?
Ich habe im Louvre viel über Malerei gelernt, als ich an der Beaux-Arts in Paris studierte. Nicht durch Reproduktionen, sondern indem ich lernte, wie man wirklich hinschaut. Ich bin tatsächlich ins Museum gegangen, weil ich den Horizont sehen wollte, was in einer Groß-Stadt oft unmöglich ist. Sehen zu lernen ist eine Sache, aber am schwierigsten war es für mich, mir selbst genug zu vertrauen, es zu wagen, die Welt mit meinen eigenen Projektionen zu versehen.

Diese Emanzipation hat mich nach dem Studium mehrere Jahre gekostet, und es war wichtig, dass ich mir diese Zeit genommen habe. Ich brauchte eine solche Zeit, um mich selbst und meine Kunst zu entwickeln. Das zeigt sich auch in meiner Arbeit: von einem fast ausschließlich gedanklichen Einsatz habe ich mich langsam zu einer mehr erzählerischen Form hinbewegt und heute vertrete ich einen Diskurs, der geradezu aktivistisch und politisch ist. Was ich in meinen Bildern sehe, offenbart auf intime Weise, was ich als Frau, als Person erlebe.

Meine Arbeit ist stark inspiriert durch das internationale Zeitgeschehen, Literatur, Klima- und Biodiversitätsfragen sowie von dem Umfeld der Arbeiterklasse und des ländlichen Lebens, aus dem ich komme und in dem ich mich häufig aufhalte. Meine Arbeit bezieht sich oft auch auf Meisterwerke der Kunstgeschichte. Ich lasse diese Elemente einfließen, indem ich meine eigene innere Mythologie in meine Bilder einbaue.
In meinen Arbeiten geht es auch um die Themen Zerstörung und das mögliche Ende der Menschheit. Ich verwende dieses Themen-Material, um Verbindungen zwischen ihnen zu schaffen und versuche durch das Imaginäre ein Feld kollektiver Möglichkeiten zu eröffnen. Ich mag die Vorstellung, neue imaginäre Welten zu schaffen, die vom Prinzip der Dystopie inspiriert sind, um die Absurdität unserer aktuellen Situation zu hinterfragen und gleichzeitig unser universelles und persönliches Bedürfnis zu träumen, einfließen zu lassen.

ARTCHEVAL

Manchmal bekomme ich auch den Auftrag für ein Thema, wie bei dem von dir erwähnten Pferdeprojekt. Nach einer mehrmonatigen Vertiefungsphase habe mich dem Thema mit meinen eigenen Gefühlen genähert, ausgehend von den Erzählungen und Erfahrungen anderer, die mich zutiefst berührt haben. Meine Bilder waren keineswegs zimperlich, eher zügellos und manchmal schockierend. Das Ziel meiner Arbeit ist es jedoch nicht zu schockieren um des Schockierens willen, sondern um dem Betrachter Denkanstöße zu geben. Ich möchte die Rezipienten meiner Kunst dazu anregen, sich selbst und ihre Rolle in ihrer Umgebung zu hinterfragen. Deshalb lege ich großen Wert darauf, meine Bilder attraktiv-anziehend zu halten, trotz der manchmal harschen Botschaft, die ihnen zugrunde liegt.
Die Art und Weise, wie ich mit meinen Motiven umgehe, hat in der Tat etwas extrem tiefgehendes. Aber es gibt aber auch etwas Körperliches in der Art, wie ich meine Arbeit ausführe. Ich arbeite instinktiv und intuitiv. Meine Linie hat manchmal eine gedämpfte, manchmal eine explosive Energie, die sich in Gesten ausdrückt und eine Kraft, die das Bild prägt. Ich zeichne unermüdlich und setze dabei meinen ganzen Körper ein, denn ich muss die Bewegung, die ich darstelle, in meinem eigenen Fleisch und Blut spüren. All das findet im Atelier statt, in dieser Umgebung, die mit dem Pulver von Kohle und Kreide gefüllt ist, einem Staub, der auch mich bedeckt, der den Raum ausfüllt und sich auf dem Boden sammelt. Ich habe eine besondere Beziehung zur Farbe, was eine sehr befriedigende Erfahrung für mich ist. Ich erinnere mich noch gut, wie ich gelernt habe, dass Farben nicht wirklich existieren. Das hat mich sehr getroffen. Und ich erinnere mich, dass ich lange Zeit darüber geweint habe.

Wie hast du angefangen zu malen und welche Bedeutung hat die Malerei für dich?
Ich habe mit der Malerei begonnen, als ich noch sehr jung war, und bin in die Fußstapfen meines Vaters getreten, der zu Hause Postkartenreproduktionen malte. Dann habe ich mir Bücher gekauft, um die verschiedenen Zeichentechniken zu lernen. Ich glaube, ich habe wie jedes andere Kind angefangen, aber im Gegensatz zu den meisten Kindern habe ich nie aufgehört und bin beharrlich geblieben. Meine Beziehung zu Bildern stammt aus der Populärkultur. Ich war von Bildern fasziniert und hatte viel Fantasie, als ich jung war. Ich liebte es, Dinge zu erschaffen und zu gestalten. Vor allem liebte ich Farben. Diese kreative Freiheit wurde eingeschränkt, als ich in die Sekundarschule kam.

War es schon immer Ihr Traum, als Künstlerin zu arbeiten? Und wie gehst du mit der finanziellen Unsicherheit dieses Berufs um?
Als ich jünger war, wusste ich nicht, dass es so etwas wie einen Künstler gibt; ich wollte eine Zeichnerin werden. Während meines Studiums habe ich versucht, meine Fähigkeiten in verschiedenen Berufen anzuwenden – Design, Comics, Illustration -, aber tief in mir wusste ich, dass das nicht das war, was ich machen wollte. So seltsam diese Aussage auch sein mag, das Zeichnen und Malen hat mich mehr als einmal aus tief verzweifelten Momenten und schwierigen Situationen herausgeholt. (Bild: Incendie bleu)

Ich habe dafür gekämpft, diesen Weg zu gehen, und ich bereue es nicht im Geringsten. In den ersten Jahren habe ich nebenbei gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren, und dann habe ich erkannt, dass die Malerei totale Hingabe erfordert, um sich zu entwickeln. Alles oder Nichts! Heute ist mein Lebensstil völlig minimalistisch. Ich lebe in einem Tiny House fast kostenlos, bin praktisch Selbstversorgerin und lebe wie eine Nomadin von Ort zu Ort. Das passt zu meinen persönlichen Überzeugungen. Ich beziehe Stellung gegen die exzessive Lebensart unserer Gesellschaft: ich will nicht konsumieren, ich will erschaffen.

Wie gehst du mit Fehlern oder Misserfolgen um, während des Malprozesses, aber auch im Leben (z. B. wenn Bewerbungen abgelehnt werden)?
Der härteste Rückschlag war die Weigerung der Jury, mir ein Diplom der Pariser Kunsthochschule auszustellen. In Paris setzt sich die Jury jedes Jahr aus Mitgliedern außerhalb der Schule zusammen, und ich hatte leider einfach Pech. Diese Entscheidung war sehr hart für mich. Nach meinem Abschluss im folgenden Jahr verließ ich die Hauptstadt, ich mochte die Isolation und die Einsamkeit nicht, die man dort als Künstler manchmal erlebt. Man sagte mir, ich müsse mich darauf einstellen hunderte Bewerbungen einzureichen, um für eine Stelle in Frage zu kommen. Im Jahr nach dem COVID bewarb ich mich mehr als doppelt so oft, ohne eine positive Antwort zu erhalten. Ich befand mich in einer abwärts Spirale der Ablehnung und es war sehr hart für mich da wieder herauszukommen. Aber ich blieb hartnäckig und lernte dadurch vor allem, mich und meine Arbeit besser zu präsentieren und besser auf Stellenausschreibungen zu reagieren. Vor allem musste ich musste ich lernen, mir selbst Anerkennung und Geltung zu verschaffen und das brauchte Zeit. Heute erfahre ich eine viel mehr Anerkennung meiner Arbeit durch verschiedene Institutionen, was den gesamten kreativen Prozess beeinflusst und erleichtert. Ich weiß sehr wohl, dass bei der Auswahl der Unterlagen für eine Ausschreibung viele Faktoren eine Rolle spielen Bewerbungen spielen, die ich nicht gut meistere. Die heftigste Auswirkung bei der Auswahl ist natürlich die Zermürbung.

Wie sieht dein Arbeitsprozess aus? Und wie findest du findest einen Weg zum Inneren besonders in dieser Welt voller Termine, Medienüberlastung und Großstadtlärm?
Ich mag es, wenn es um mich herum viel Trubel gibt. Ich komme voll zur Entfaltung durch all die Eingriffe von außen, die Begegnungen und den Austausch. Ich liebe zum Beispiel gemeinsame Workshops, ich liebe Residencys, wo ich neue Leute kennenlerne, und eine Art Wetteifern  geschaffen wird. Ich denke viel nach, bevor ich zeichne. Ich modelliere manchmal den Raum, in dem das Werk entstehen soll, im Kopf und zeichne im Geiste die groben Umrisse meiner Zeichnungen. Ich sitze oder liege einfach ganz still. Das kann einige Zeit dauern, und dann zeichne ich direkt auf das jeweilige Papierformat. Zuerst lege ich die Hauptlinien fest und zeichne die ersten Formen, dann korrigiere ich, zeichne neu und korrigiere wieder. Ich befinde mich in einem Zustand der extremen Konzentration, bei der mir die Zeit völlig entgleitet.
Als ich jünger war, habe ich geturnt, und ich könnte eine Parallele ziehen zwischen diesem Zustand und dem, in dem ich mich befand, als ich Figuren turnte. Für einen Moment lang gibt es weder Zeit noch Raum…dafür aber eine echte körperliche Erschöpfung, wenn man die Füße wieder auf den Boden setzt.
Wenn ich aus der Beobachtung heraus male, ein Porträt oder eine Landschaft, bin ich auf die gleiche Weise konzentriert. Es geht darum, sehr persönliche, nicht greifbare Wahrnehmungen in zwei Dimensionen in Form von Linien, Formen und/oder Farben zu übertragen. Im Allgemeinen arbeite ich ziemlich schnell, wenn ich zeichne. Ich bin sehr effizient. „La Chasse à coure“, zum Beispiel, eine Kohle- und Pastellzeichnung von 2 Metern Höhe und 4 Meter 50 Länge, hat zwei Wochen gedauert. Es kann Tage dauern, bis ich eine Zeichnung fertig habe, oder ein paar Minuten für eine andere.

(Bild: nature morte et invasive)

Welche Rolle spielt die Intuition für deine künstlerische Arbeit, aber auch für dein Leben?
Intuition ist wichtig, denn es geht um Gefühle, Erfahrungen, bestimmte Formen von Genauigkeit und Wahrheit. Vor allem auch, weil ich versuche mit meiner Arbeit zum Betrachter zu sprechen. Um das zu erreichen, muss ich sehr aufmerksam, sozial intelligent sein und vor allem mir selbst vertrauen. Ich denke, Intuition ist ein bisschen von all dem.

Was sind für dich die wichtigsten Voraussetzungen, um kreativ zu sein? Wie gehst du mit dem Widerspruch zwischen dem Brauchen von Zeit, um kreativ zu sein, und dem man durch neoliberale, gesellschaftliche Strukturen ständig unter Zeitdruck steht?
Um kreativ zu sein, muss ich ständig in Kontakt mit Ideen, Menschen und Begegnungen sein. Manchmal muss ich Malereien sehen, manchmal im Wald auf weichem Boden spazieren gehen. Ein Buch lesen, einer Diskussion zuhören. Ich muss mit der Welt verbunden sein und brauche Zeit, um all diese Informationen zu verdauen. Ich habe das Glück, dass das bei mir relativ schnell geht, aber manchmal übersteigt es meinen Verstand und dann analysiere ich meine Bilder erst im Nachhinein. Aber ich glaube, dass meine Ideen im Allgemeinen aus einem tiefen Gefühl und Wissen über die Ungerechtigkeiten der Welt und revolutionären Gedanken kommen.

Foto: Caron Bachelot

Hast du irgendwelche Empfehlungen für Menschen, die das Gefühl für sich selbst verloren haben? Kunst kann in der Tat therapeutisch und heilsam sein, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Künstler auch in Depressionen oder Burn-outs verfallen können und dies auch oft tun. Kunst löst keine Probleme; ich denke, es ist eher eine Frage die Frage, wie und warum wir sie machen. Ich denke, Sensibilität ist in unserer Gesellschaft ein wichtiges und problematisches. Um die Frage zu beantworten, würde ich sagen, dass es mir persönlich geholfen hat, über meine Arbeit zu schreiben. Das ist eine Übung, die Zeit braucht, aber sie erlaubt es einem, eines der wichtigsten Dinge zu tun, nämlich einen Schritt zurückzutreten, Abstand zu gewinnen. Beim Zeichnen zum Beispiel ist die Perspektive verzerrt, wenn man die Nase direkt vor seinem Werk hat. Und das kann man sich nur bewusst machen, wenn man regelmäßig einen Schritt zurücktritt. Es ist nichts falsch daran, zu korrigieren; Ich glaube sogar, dass dies die Essenz des Zeichnens ist.

Kopfurlaub

Es ist laut und voller Menschen, wir müssen schnell noch dieses oder jenes besorgen, drängeln uns gestresst durch die überfüllte Innenstadt und hetzen weiter zum nächsten Termin. Plötzich tut sich ein verträumter Wolkenhimmel auf. Wir bleiben stehen und bemerken die langsame, fließende, scheinbar willkürliche Bewegung der sich ineinander einfügenden, aufstülpenden und wieder vergehenden Wolken. Eine Bewegung, die zwar ohne Ordnung, aber mit einem sich dem rationalen Denken entziehenden Sinn abläuft, uns mit unserem unbewussten Gefühl, lebendig und ein Teil des Lebens zu sein, verbindet. Eine Erinnerung daran, dass die scheinbare Zufälligkeit des Lebensflusses, vielleicht nur einer Sinn-Ordnung folgt, die für uns nicht greifbar ist.

Auch, wenn unsere Augen beim Blick in den Himmel erst mal an den Objekten, also in diesem Fall Wolkenformationen hängen bleiben, ist es die Weite der Leere um diese Objekte herum, die uns so frei und offen fühlen lassen. Wir spüren nochmal, dass unser ganzes Denken, Planen und Tun den ganzen Tag nur einen kleinen Teil von uns selber ausmacht und wir doch viel mehr das sind, was man den Raum drumherum nennen könnte. Raum, der sich nach Freiheit, Weite und Offenheit, aber auch nach Leere anfühlt und deshalb erst mal Angst macht. Das zu erkennen gleicht einem Befreiungsschlag, denn wir können bemerken, dass die kleinen, oftmals unangenehmen Drücke der „ich sollte“-Gedanken nur einen winzigen Teil in diesem riesigen Wahrnehmungsraum ausmachen, an den uns die unvorstellbare Unendlichkeit eines Himmels erinnert.

In einem Schaufenster in der Innenstadt, einem exemplarischen Ort des Konsums, der uns normalerweise von all der inneren Fülle ablenkt, uns klein und abhängig von Dingen fühlen lässt, hat der Licht- und Medien-Künstler François Schwamborn ein kleines Tor in die eigene Innerlichkeit erschaffen. Im Interview erzählt er unter anderem, wie die Arbeit, eine Projektion von lebendig wirkenden, aber vor allem langsamen Wolkenformationen, entstanden ist.

Was steht inhaltlich hinter deiner Arbeit Mut zur Langsamkeit? Kannst du nochmal kurz beschreiben?
Mut zur Langsamkeit ist ein Eingriff im öffentlichen Raum. Die Arbeit lädt dazu ein, sich der Langsamkeit zu fügen und sich aus seinem Alltag zu reißen.

Mut zur Langsamkeit ist natürlich ein Gegensatz zu der Effizienz und Quantität statt Qualität Mentalität der heutigen Zeit. Ist deine Arbeit in diesem Sinne denn auch eine Kritik an der neoliberalen Gesellschaftsstruktur?
Die Arbeit versteht sich als Gegensatz zur neoliberalen Gesellschaftsstruktur, aber ist in meinen Augen kein Gegensatz zu Effizienz. Ich denke, dass es im Gegenteil viele Vorteile haben kann, langsam an Prozesse heranzugehen. Unsere Gesellschaft ist sich aber dessen leider nicht bewusst. Man geht davon aus, dass, wenn etwas schnell erledigt wird, es dann auch gut gemacht ist. Dabei werden oft nur kurzfristige Lösungen für längerfristige Probleme gesucht. Natürlich denke ich dabei z. B. an Probleme wie den Klimawandel, die oft durch Aktionismus und Greenwashing letztendlich nur verdrängt werden.

Das Schaufenster als Ort der Schnelllebigkeit und des Konsums ist ja eigentlich ein Symbol für Künstlichkeit und Oberflächlichkeit. Willst du gerade durch den Standort in der Innenstadt und das Spielen mit verträumten Wolkenformationen, PassantInnen aus ihrem routinierten Konsum und der städtischen Unnatürlichkeit herausreißen, nach dem Motto: Stop and smell the roses?!
Ja, das ist ein bisschen der Gedanke hinter der Arbeit. Ich sehe das Schaufenster als eine Art Schrein des Konsums. Es mit Kunst statt mit Produkten zu füllen, wertet es in meinen Augen auf und es gibt wieder etwas (in meinen Augen zumindest) zu schauen.

Wie ist die Idee entstanden? War zuerst die Animation oder die inhaltliche Idee da?
Die Idee war zuerst da. Die Arbeit in dem Fenster ist extra dafür gemacht worden, ist aber Teil einer Reihe von Videoarbeiten, in denen ich mich mit der Langsamkeit beschäftigt habe.

Wie hast du die Arbeit kreiert? Welche technischen Mittel verwendest du und wie läuft so ein Arbeitsprozess bei dir ab?
Die Arbeit entsteht in zwei Schritten. Als erstes habe ich Videoaufnahmen vom Himmel gemacht. In einem zweiten Schritt habe ich diese Aufnahmen verzerrt und mit einer zusätzlichen Ebene versehen.

Da du ja mit sehr viel Technik arbeitest: inwiefern ist es bei deiner Arbeit wichtig loszulassen, spielerisch zu mit Formen umzugehen? Welche Rolle spielt dabei die Intuition?
Im Kern des Schaffensprozesses spielt die Intuition eine zentrale Rolle. Ich gehe auf eine Experimentelle Art auf meine Arbeit ein und komme dabei im Idealfall in einen Flow. Wenn ich in diesem Zustand bin, vergesse ich die Zeit und gehe komplett in meiner Arbeit auf.

Inwiefern spielt das Thema Zeit bei deiner Kunst eine Rolle? Kreativität entsteht nicht auf Knopfdruck. Würdest du sagen, dass auch du den Inhalt deiner Arbeit – also die Langsamkeit – brauchst, um kreativ zu sein?
Ich denke, dass der kreative Prozess aus vielen verschiedenen Phasen besteht. Ich glaube auch, dass ich rund um die Uhr an meinen Ideen unbewusst oder bewusst arbeite. Der Moment, in dem ich zur Tat schreite, ist nur ein Bruchteil davon. Bis es dazu kommt, braucht es Zeit.

Was kannst du Menschen mitgeben, die vielleicht genau darunter leiden, sich ständig unter Zeitdruck zu fühlen? Denn die steigenden Burn Out Zahlen und wachsenden psychischen Probleme mit Ängsten deuten ja daraufhin, dass der Verlust von Langsamkeit sogar krank macht und auch auf kollektiver Ebene ein gravierendes Problem darstellt.
Ich muss da an einen Meditationslehrer denken, der vor ein paar Jahren im Radio interviewt worden ist. Der meinte, dass jeder Mensch eine Stunde am Tag meditieren sollte. Und diejenigen, die dafür keine Zeit haben, sollten zwei Stunden meditieren. Ich selbst meditiere nicht, aber ich glaube ja, dass es längerfristig ungesund ist zu wenig Zeit für sich selbst zu haben. Darum geht es ja in der Arbeit letztendlich: Ich möchte den Leuten, die keine Zeit haben, einen kurzen Moment Kopfurlaub ermöglichen. Man muss sich nur darauf einlassen. Dass das der Kern des Problems ist, ist mir bewusst.

Wie geht’s bei dir weiter? Welche Projekte hast du in nächster Zeit geplant?
Als Nächstes stelle ich im Saarlandmuseum aus. Dort werde ich mich mit Ordnung und Chaos auseinandersetzen.

Flucht vorm Funktionieren?

Endlich nicht mehr denken müssen, einfach fühlen, sich gehen lassen, die ganzen Ziele, die man so hat mal vergessen und einfach den Moment mitnehmen, ohne etwas erreichen zu wollen damit. In unserer von Daten, Informationen, Deadlines und Pflichten überladenen Welt ist das Nachtleben für viele der Ausgleich, den man vermeintlich braucht, um weiterhin zu funktionieren. Dabei weiß man – auch wenn, man das manchmal gar nicht wissen will -, dass es immer nur eine kurze Flucht ist, die oftmals mit dem Kater danach oder sogar in Abhängigkeiten endet. Und jeder, der mal feiern war, weiß, dass auch hier die Peergroup bestimmt, wie man sich glaubt, verhalten zu müssen, dass es Hierarchien gibt, bestimmt vom Aussehen, vom sozialen Status und auch vom Zugang zu Substanzen, die den Rausch verstärken.

Alona Rodeh: In Dreams, 2016/19 Single-Channel color HD with sound, 6:48 min
© Alona Rodeh, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023

Die Ausstellung ON A NIGHT TRIP in der Defensionskaserne Petersberg in Erfurt thematisiert nicht nur den Zustand „zwischen Glücksgefühl und Absturz“, sondern setzt sich in einer Kombination aus Wissenschaft und Kunst auch damit auseinander, warum wir eigentlich fliehen wollen. Oder müssen? Denn im Alltag haben wir oft vermeintlich keine Zeit uns Gedanken darüber zu machen, warum wir nicht unsere Lebenszeit so gestalten, dass wir uns wohl mit uns selber fühlen und eben nicht fliehen wollen. Wir funktionieren quasi um des funktionieren-willens. Ein Teufelskreis, der nicht nur Drogenabhängigkeit, sondern Süchte jeglicher Art generieren kann. Denn auch von exzessivem Sport, Sex, Essen, Kaufen, Arbeiten – im Grunde jede Form von Konsum – können wir abhängig werden.

Paula Wolber: Loop N.O., 2018, Heliumballons, Modelleisenbahn

Die Installation Loop N.O. von Paula Wolber zeigt, wie schwierig es ist, gerade bei der Gesellschaftsdroge Alkohol „NO“ zu sagen, denn der Rausch verspricht ein „ON“. „Komm’ ich geb dir auch einen aus“, klingt harmlos, ist aber exemplarisch dafür, dass die „Normalheit des Trinkens“ die Auswirkungen von Alkohol verharmlost und zugleich Druck schafft mitzutrinken. Denn mal abgesehen von der sozialen Ablehnung des Nicht-Trinkens ist die Gesellschaft von immer betrunkener werdenden, lauten Menschen, nüchtern oft eher unangenehm. Man trinkt also auch, um das Partytreiben überhaupt aushalten zu können. Diese sensiblen Tabuthemen des Trinkens behandelt auch die Keramik-Arbeit „Nacht“ von Asana Fujikawa, welche er auch in einem poetischen Text über Freundschaft und Mitschuld reflektiert. Schwankende, wankende, verschwommene Schönheit spürt man vor dem ausartenden Kristallleuchter von Nasan Tur.

Links: Asana Fujikawa: Nacht, 2023, Keramik glasiert, 32 x 27 x 18 cm, © Asana Fujikawa, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023
Rechts: Nasan Tur, Untiteld (Chandelier), 2023 Kristallleuchter, bearbeitet 160 x 120 cm
© Nasan Tur, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023, Courtesy: Dirimat & the artist

Rund 40 Werke von internationalen KünstlerInnen verbinden die Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Psychologie und Suchtforschung, ohne damit gezielt eine bestimmte Frage beantworten zu wollen. Denn den einen Weg gibt es in der Suchtprävention nicht, weiß Dr. Susanne Rockweiler, Chefkuratorin und 1. Vorsitzende der Stiftung Welt der Versuchungen, die als Mischung von künstlerisch und wissenschaftlich, medizinisch und therapeutisch arbeitenden Experten eine ganze einzigartige neue Herangehensweise an diese Thematik erstellt. Kunst muss nichts und kann viel, sagt sie im Interview und erklärt, wie die Idee entstanden und gewachsen ist:

Bemerkenswert ist vor allem, dass einige KünstlerInnen direkt mit dem Material des Nachtlebens gearbeitet haben. Sarah Ancelle Schönfeld hat Werke (Serie: All you can feel) kreiert, die durch die chemische Reaktion von zB. Crsytal Meth oder Kokain auf Foto-Negativen psychedelisch, malerisch ästhetische Porträts dieser Substanzen entstehen lassen.

Die Theke als zentraler Ort des Rauschs wurde von Nevin Aladag mit einem Stiletto-Hammer bearbeitet. Und Sarah Ancelle Schönfeld hat den Harn mit den vielen Rückständen der psychoaktiven Substanzen von Feiernden im legendären Berliner Club Berghain gesammelt und seine gefährlich bis eklig wirkende Ästhetik mit dem Ausstellen in einem Glas-Sarg bedeutsam inszeniert (Hero’s Journey).

Inhaltlich wie auch äußerlich, ästhetisch, aber auch immer wieder schockierend persönlich und offen zeigt die Ausstellung, den schwammigen Übergang vom befreiten Tanzen zum Absturz in die Abhängigkeit. Beim Durchgang durch die roh wirkenden Beton-Ausstellungsräume findet man genau die Gegensätze, die wir auch in der alltäglichen Leben fühlen können. Mehr Schein, als Sein überdeckt die hässlichen Seiten unserer Gesellschaftsstrukturen, die systematisch Konsum propagiert und gleichzeitig über den überdimensionalen sozialen Leistungsdruck die Lebensbedingungen dafür schafft, in diesen Konsum fliehen zu müssen, um darin überleben zu können. Unsere eigenen Gedanken sind oft so fokussiert auf Bewertungen und Verurteilungen, dass wir unmerklich versuchen, sogar vor unserem eigenen Denken zu fliehen. Und das funktioniert über das Zudröhnen, mit Substanzen, aber auch mit oberflächlichen Smalltalks, mit sehen und gesehen werden, mit lauter Musik, aber auch genauso mit dem Blick in andere viel schönere Leben auf Instagram und Co.

Dr. Rockweiler und ihr Team stellt mit dieser Ausstellung keinen direkten Lösungsansatz dar, wie sie selber sagt:

Die Kunstwerke spiegeln aber auf spannende Art all die kleinen, unbewussten Facetten des Nachtlebens wider – und konfrontieren das, worüber wir viel zu selten sprechen.

Stiftung Welt der Versuchungen: ON A NIGHT TRIP. Zwischen Glücksgefühl und Absturz? Noch bis zum 10. Dezember, Dispersionskaserne, Petersberg 15, Erfurt.