Flucht vorm Funktionieren?

Endlich nicht mehr denken müssen, einfach fühlen, sich gehen lassen, die ganzen Ziele, die man so hat mal vergessen und einfach den Moment mitnehmen, ohne etwas erreichen zu wollen damit. In unserer von Daten, Informationen, Deadlines und Pflichten überladenen Welt ist das Nachtleben für viele der Ausgleich, den man vermeintlich braucht, um weiterhin zu funktionieren. Dabei weiß man – auch wenn, man das manchmal gar nicht wissen will -, dass es immer nur eine kurze Flucht ist, die oftmals mit dem Kater danach oder sogar in Abhängigkeiten endet. Und jeder, der mal feiern war, weiß, dass auch hier die Peergroup bestimmt, wie man sich glaubt, verhalten zu müssen, dass es Hierarchien gibt, bestimmt vom Aussehen, vom sozialen Status und auch vom Zugang zu Substanzen, die den Rausch verstärken.

Alona Rodeh: In Dreams, 2016/19 Single-Channel color HD with sound, 6:48 min
© Alona Rodeh, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023

Die Ausstellung ON A NIGHT TRIP in der Defensionskaserne Petersberg in Erfurt thematisiert nicht nur den Zustand „zwischen Glücksgefühl und Absturz“, sondern setzt sich in einer Kombination aus Wissenschaft und Kunst auch damit auseinander, warum wir eigentlich fliehen wollen. Oder müssen? Denn im Alltag haben wir oft vermeintlich keine Zeit uns Gedanken darüber zu machen, warum wir nicht unsere Lebenszeit so gestalten, dass wir uns wohl mit uns selber fühlen und eben nicht fliehen wollen. Wir funktionieren quasi um des funktionieren-willens. Ein Teufelskreis, der nicht nur Drogenabhängigkeit, sondern Süchte jeglicher Art generieren kann. Denn auch von exzessivem Sport, Sex, Essen, Kaufen, Arbeiten – im Grunde jede Form von Konsum – können wir abhängig werden.

Paula Wolber: Loop N.O., 2018, Heliumballons, Modelleisenbahn

Die Installation Loop N.O. von Paula Wolber zeigt, wie schwierig es ist, gerade bei der Gesellschaftsdroge Alkohol „NO“ zu sagen, denn der Rausch verspricht ein „ON“. „Komm’ ich geb dir auch einen aus“, klingt harmlos, ist aber exemplarisch dafür, dass die „Normalheit des Trinkens“ die Auswirkungen von Alkohol verharmlost und zugleich Druck schafft mitzutrinken. Denn mal abgesehen von der sozialen Ablehnung des Nicht-Trinkens ist die Gesellschaft von immer betrunkener werdenden, lauten Menschen, nüchtern oft eher unangenehm. Man trinkt also auch, um das Partytreiben überhaupt aushalten zu können. Diese sensiblen Tabuthemen des Trinkens behandelt auch die Keramik-Arbeit „Nacht“ von Asana Fujikawa, welche er auch in einem poetischen Text über Freundschaft und Mitschuld reflektiert. Schwankende, wankende, verschwommene Schönheit spürt man vor dem ausartenden Kristallleuchter von Nasan Tur.

Links: Asana Fujikawa: Nacht, 2023, Keramik glasiert, 32 x 27 x 18 cm, © Asana Fujikawa, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023
Rechts: Nasan Tur, Untiteld (Chandelier), 2023 Kristallleuchter, bearbeitet 160 x 120 cm
© Nasan Tur, VG Bild-Kunst, Bonn, 2023, Courtesy: Dirimat & the artist

Rund 40 Werke von internationalen KünstlerInnen verbinden die Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Psychologie und Suchtforschung, ohne damit gezielt eine bestimmte Frage beantworten zu wollen. Denn den einen Weg gibt es in der Suchtprävention nicht, weiß Dr. Susanne Rockweiler, Chefkuratorin und 1. Vorsitzende der Stiftung Welt der Versuchungen, die als Mischung von künstlerisch und wissenschaftlich, medizinisch und therapeutisch arbeitenden Experten eine ganze einzigartige neue Herangehensweise an diese Thematik erstellt. Kunst muss nichts und kann viel, sagt sie im Interview und erklärt, wie die Idee entstanden und gewachsen ist:

Bemerkenswert ist vor allem, dass einige KünstlerInnen direkt mit dem Material des Nachtlebens gearbeitet haben. Sarah Ancelle Schönfeld hat Werke (Serie: All you can feel) kreiert, die durch die chemische Reaktion von zB. Crsytal Meth oder Kokain auf Foto-Negativen psychedelisch, malerisch ästhetische Porträts dieser Substanzen entstehen lassen.

Die Theke als zentraler Ort des Rauschs wurde von Nevin Aladag mit einem Stiletto-Hammer bearbeitet. Und Sarah Ancelle Schönfeld hat den Harn mit den vielen Rückständen der psychoaktiven Substanzen von Feiernden im legendären Berliner Club Berghain gesammelt und seine gefährlich bis eklig wirkende Ästhetik mit dem Ausstellen in einem Glas-Sarg bedeutsam inszeniert (Hero’s Journey).

Inhaltlich wie auch äußerlich, ästhetisch, aber auch immer wieder schockierend persönlich und offen zeigt die Ausstellung, den schwammigen Übergang vom befreiten Tanzen zum Absturz in die Abhängigkeit. Beim Durchgang durch die roh wirkenden Beton-Ausstellungsräume findet man genau die Gegensätze, die wir auch in der alltäglichen Leben fühlen können. Mehr Schein, als Sein überdeckt die hässlichen Seiten unserer Gesellschaftsstrukturen, die systematisch Konsum propagiert und gleichzeitig über den überdimensionalen sozialen Leistungsdruck die Lebensbedingungen dafür schafft, in diesen Konsum fliehen zu müssen, um darin überleben zu können. Unsere eigenen Gedanken sind oft so fokussiert auf Bewertungen und Verurteilungen, dass wir unmerklich versuchen, sogar vor unserem eigenen Denken zu fliehen. Und das funktioniert über das Zudröhnen, mit Substanzen, aber auch mit oberflächlichen Smalltalks, mit sehen und gesehen werden, mit lauter Musik, aber auch genauso mit dem Blick in andere viel schönere Leben auf Instagram und Co.

Dr. Rockweiler und ihr Team stellt mit dieser Ausstellung keinen direkten Lösungsansatz dar, wie sie selber sagt:

Die Kunstwerke spiegeln aber auf spannende Art all die kleinen, unbewussten Facetten des Nachtlebens wider – und konfrontieren das, worüber wir viel zu selten sprechen.

Stiftung Welt der Versuchungen: ON A NIGHT TRIP. Zwischen Glücksgefühl und Absturz? Noch bis zum 10. Dezember, Dispersionskaserne, Petersberg 15, Erfurt.