Eine Erfolgsgeschichte ohne viel Erfolg

Oder: Die Kunst des Lebens

Jörg Mathieu hat in 7 Jahren 77 Konzerte organisiert, dafür sein eigenes Label „Indiera Promo“ gegründet, bis 2022 geleitet und die Konzertabende mit Darkwave, Goth, Postpunk-Bands aus der ganzen Welt nicht nur koordiniert, sondern vor allem genossen. Dabei hat er sich nie auf Stilrichtungen festgelegt, wichtig war nur „kein Mainstream“. Denn sobald sich ein Künstler oder eine Künstlerin anpasst, um Erfolg zu haben, verliert er oder sie für ihn die Echtheit, die ihm wichtiger ist als alles andere. Auch deshalb blieb er standhaft, auch wenn mal kaum Publikum erschienen ist. „Klar ist das dann für alle enttäuschend, für die Bands, die Leute von der Location, für alle, die in den Abend involviert sind“, gibt er zu. Aber er hat sich immer darauf konzentriert, glücklich darüber zu sein, dass er sich hier in seinem Hobby kreativ ausleben konnte.

Mit Indiera Promo hat Jörg sogar ein ganzes Festival initiiert, das Black Water Festival.

„Ich kann nicht gut malen oder selbst Musik machen. Damit bin ich nicht beschenkt“, erzählt er bescheiden, „aber ich kenne einfach viele, die talentiert sind.“ So hat er es als seinen Beitrag zur Kultur angesehen, den organisatorischen Part zu übernehmen. Was nicht minder von Talent zeugt, denn seine ehrliche, bodenständige Begeisterungsfähigkeit steckt an. Nicht nur das Publikum, sondern auch die Bands, die er aus der ganzen Welt ins kleine Saarbrücken gelotst hat. „Ich war dann auch oft sowas wie der Stadtführer, hab den Bandmitgliedern Saarbrücken gezeigt und mich auch ein bisschen verantwortlich gefühlt dafür, einen Teil der Saarbrücker Kulturszenen zu repräsentieren.“ Im Grunde unbezahlte Arbeit für die Stadt. Wie viele Kulturschaffende das ja schon kennen.

Das war natürlich energietechnisch ein riesen Unterfangen. Denn neben einem Vollzeitjob quasi einen weiteren als Hobby zu betreiben, kostet enorm viel Zeit und Kraft. Seine Leidenschaft für Musik war daher unabdingbar: ohne selbst darin aufzugehen, hätte er das wohl nie geschafft. „Ich hab natürlich auch gesehen, wie viel Zeit und Geld andere in teure Hobbys stecken“, sagt er und betont, dass es das für ihn absolut wert war. Denn bezahlt hat er Unterkunft und Anreise der KünstlerInnen immer selbst. „Die Locations durften dann behalten, was sie einnahmen.“ Weil auch er irgendwann an seine finanziellen Grenzen kam, musste er Indiera Promo 2022 beenden. Doch schon immer hat er irgendwo in sich gefühlt, dass wahre Zufriedenheit nicht über einen Musterlebenslauf funktioniert, zumindest nicht für ihn. „Ich kann nur empfehlen, macht das wonach ihr euch sehnt, was da in euch schlummert. Finanziert es von mir aus mit einem Brotjob, aber sucht euch eure eigene Nische, die euch ausmacht.“ Weise Worte, die aus Erfahrung kommen.

Jörg mit seinem Retro-Filmmagazin 35 Millimeter und den zusätzlichen Sonderheften 70 Millimeter, die sich den Filmjahren 166-1975 widmen.

Denn auch er hat zuvor auf eine Art versucht, dem gängigen Gesellschaftsmodell zu entsprechen: Ehefrau, Haus, zwei Kinder. „Das war aber nicht ich. Mit den Kindern, darin bin ich aufgegangen“, sagt er, aber seine kreative Sehnsucht musste er runterdrücken. „Das kam dann abends hoch, wenn alle geschlafen haben und so. Man gibt dann schon einen Teil von sich auf.“ Bis schließlich die Trennung kam. „Das ganze Konstrukt ist in sich zusammengefallen.“ Dauerhaft bleibt eben doch nur das, was richtig für uns ist, was tief in uns verankert ist und keine Rolle, die wir glauben, erfüllen zu müssen.

„Das war alles zu viel. Beim Legacy Magazin war oft gerade in der Woche vorm Drucktermin so viel zu tun, dass ich dann meistens durchgearbeitet, 36 Stunden am Stück, die Redaktionsräume quasi gar nicht verlassen hab. Das ging dann einfach nicht mehr.“ Obwohl er den Job als Layouter bei dem berühmten Metal-Magazin geliebt hat, wusste er, dass es wichtiger ist, sich jetzt um die eigene Seele zu kümmern. Bei seiner Arbeit hier ist er immer wieder in eine für ihn eher fremde Welt eingetaucht, denn: „privat höre ich kein Metal.“ Er hat den Job aus Herzensfreude und Neugier heraus gemacht und so ganz unbewusst die Grundlagen für seine spätere eigene kreative Selbstverwirklichung gelernt.

Synchronizität nennt man die von C. G. Jung erforschte irrationale Sinngebung, die hier vielleicht am Werk war. Denn synchron, innen wie außen entwickelt sich etwas, das man sich innerhalb seiner eigenen Lebenspläne, seinem bewussten rationalen Denken nie vorstellen könnte. Das Scheitern dabei, sich in ein anerkanntes Gesellschaftskonstrukt zu pressen, die Liebe zur Kunst und Kreativität, und auch die Erfahrung im Layouten, koordinieren und organisieren ist schließlich in seiner eigenen Erfüllung gemündet, ohne dass er es hätte ahnen können. „Plane nicht dein Leben“, ist sein Résumé, „das geht sowieso schief“, sagt er frei aus dem Herzen heraus. Lass dein Leben dich lenken, wie es im Buddhismus erklärt wird. Vertrauen in die eigene Intuition ist dafür enorm wichtig, denn kein Vorbild, kein Lehrer, kein Denkmuster oder Rollenbild weiß besser, was das richtige speziell für dich ist, als dein innerer Kompass.

Jörg und ich beim Gespräch über „Gott und die Welt“.

Aber wie kann man das in unserer kapitalistischen, leistungsorientierten Welt wirklich leben? „Mach einfach“, ist seine simple Antwort, „mach unter allen Umständen, was dich interessiert, was dich glücklich macht. Auch, wenn du dafür hauptberuflich etwas anderes machen musst.“ Jörg gibt seiner Innerlichkeit immer die Chance sich zu melden, ihm seinen Weg – und sei eher noch so abwegig – über sein Herz zu vermitteln, was vor allem Ehrlichkeit zu sich selbst bedeutete und voraussetzt, sich mit seinen Abgründen, der Scham und der Angst auseinander zu setzen. Jörgs Leben ist ein Beispiel dafür, dass auch die schlimmsten Krisen, wenn wirklich alles blockiert scheint, mit etwas Zeit und Akzeptanz für sich selbst, uns näher zu unseren ehrlichen, vielleicht vormals als naiv verurteilten Selbstverwirklichungswünschen führen. „Man kann nur aus dem Scheitern lernen“, sagt Jörg, denn das zwingt uns dazu, besser hinzuschauen, uns selber aufmerksam wahrzunehmen, zu beobachten, dem Inneren seine Berechtigung und Zeit zu geben. Im Grunde genau den Gegensatz zu leben, den uns die Effizienz-Sucht und die oberflächliche Wertschätzung von kurzfristigen Glücksmomenten des Leistungszeitgeistes verkaufen will. Sich zu trauen, sich selbst zu sein, ist unbezahlbar und vor allem „unkaufbar“.

Er setzt das um, indem er nun schon seit 10 Jahren das außergewöhnliche Retro-Filmmagazin 35 Millimeter herausbringt, wo er bis vor kurzem auch Chefredakteur war. Zusammen mit rein ehrenamtlichen Autoren, wie Dr. Christoph Seelinger, Prof. Dr. Tonio Klein oder Roman Paul Widera („es ist wichtig, sich an gute Leute zu wenden und nicht alles selbst machen zu wollen“) nimmt er sich der frühsten Filmgeschichte von 1895 bis 1965 an, und zwar wissenschaftlich präzise und gleichzeitig in höchster Liebhaber-Manier. Denn die Qualität der Rezensionen, Themenfelder und Kolumnen zu einem solchen Nischenthema ist herausragend, das Layout wunderbar bunt, abwechslungsreich, spannend; gerade so überladen, dass der Charme und Glamour dieser vergangenen und kaum bekannten Filmepoche spürbar wird.

„Klar ist das ein Nischenthema“, gibt Jörg gleich zu, „aber da gibt es so viel zu entdecken. Die ersten 35 Jahre des Films gab es zum Beispiel nur Stummfilme. Damit beschäftigt sich heute ja kaum noch jemand. Dabei gab es virtuose Regisseure, gerade, weil es stumme Filme waren.“ Einige Filme gibt es gar nicht mehr, dann kann nur mit historischen Quellen rekonstruiert werden, um solche Kulturrelikte nicht zu verlieren. Das Magazin leistet damit die wichtige Aufgabe, das Kulturerbe des Films zu entdecken und aufrechtzuerhalten, weshalb es auch Einzug in diverse Uni-Bibliotheken gehalten hat. Jörg lebt seine Arbeit, das ist nicht nur an der Qualität von „35 Millimeter“ zu sehen, sondern auch daran, mit wie viel Bedacht und Liebe er über diese Aufgabe spricht.

Doch zurück ins Jahr 2006. Er hatte überhaupt keine Hoffnung mehr, saß vor dem Scherbenhaufen seines Lebens, ohne Arbeit, ohne Perspektive und dachte: Jetzt ist echt alles vorbei. Jörg war ganz unten, sagt er, hatte den Tiefpunkt seines Lebens gemeinsam mit einer sich einschleichenden Depression erreicht. Alles wofür er bis dahin gelebt hat, stellte sich als fragil und vergänglich heraus, er hatte sich ein Stück weit selbst verkauft und als Preis dafür das Scheitern erhalten. Wie sich herausstellte, ein guter Preis, denn was sich nach einem blöden Spruch anhört ist wahr: Erst das Scheitern trifft uns oft so tief, dass wir überhaupt unsere eigene Tiefe entdeckten können.

Für ihn war es unglaublich in dieser Zeit zu erleben, dass eine Frau, die sein gesamtes vermeintliches „Versagen“ vor sich hatte, ihn dennoch annehmen konnte wie er ist. Denn fast schon als sei er selbst in einem Film gelandet, hat sich in dieser Zeit seine jetzige Partnerin in ihn verliebt. „Da war noch dazu gar keine Basis. Sie Akademikerin, hochgebildet, ich aus der Arbeiter-Familie (er hatte selbst eigentlich eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur gemacht). Das ganze Umfeld, die Familie. Sie musikalisch in der Klassik und ich…“ Jörg grinst. „Echt als würden zwei verschiedene Planeten aufeinander treffen.“ Bis heute glaubt er, die beidseitige Neugier, die Offenheit, immer auch Neues, Unbekanntes in sein Leben zu lassen, aber auch die Reife, zu wissen, dass nun mal jeder im Leben Leid erfährt und Schwere mit sich bringt, hat ihn in zu einer passenden Partnerschaft geführt. Und vielleicht war es gerade seine „seelische Nacktheit“, dass er nichts ausschmücken, nichts vorgeben konnte, die gewirkt hat; treffen wir doch viel zu oft auf Menschen, die ihr Leben damit verbringen, eine glatte, polierte Fassade darzustellen, ohne jemals wirklich zu leben.

Das war natürlich nicht das Ende aller Probleme, aber etwas, wonach wir alle uns sehnen: so anerkannt und geliebt zu werden, wie wir sind, mit all unseren Ängsten, unserer Scham, dem Leid und der Trauer, aber auch unseren Verrücktheiten, unseren naiven Träumen und den vermeintlich unrealistischen Sehnsüchten. Seinen Leidensweg hat Jörg auf kreative Art verarbeitet und zunächst das Magazin Papa-ya konzipiert und herausgegeben. Hier hat er sich mit der weniger bekannten Seite von Trennungen auseinandergesetzt: Mit dem Schmerz von Vätern, die ihre Kinder nicht sehen dürfen. Bis er schließlich wieder neuen Mut gefasst und sich getraut hat, seinen Arbeitsalltag mit dem zu füllen, was er liebt: der Erforschung von unbekannter Filmkunst, die sonst vielleicht in historischen Archiven verstauben würde. Ihm macht es nichts aus, dass es nur eine kleine Anzahl an Abonnenten gibt, die aber immerhin in ganz Deutschland zu finden sind. Jörg nimmt auch in Kauf, mit dem Mindestlohn zu leben, denn das Magazin trägt sich gerade so selbst in der Produktion. Völlig unverständlich, dass er als Selbstständiger, der über das Amt seinen Lohn aufstocken muss, auch noch stigmatisiert wird. Und das, obwohl er jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat und nun mit einem minimalen Lebensstandard klarkommt, um einen Teil der Filmgeschichte zu bewahren. Eine weitere eklige Seite der neoliberalen Leistungsattitüde: einfach unreflektiert zu verurteilen, statt zu erkennen, dass Jörg eigentlich ein Leben führt, das inspiriert. Die eigene Sinngebung ist, für ihn wertvoller als materieller Wohlstand oder sozialer Status. Ein Lebensweg, der dazu ermutigen kann, die eigene Lebenszeit mit dem zu speisen, was unserer Eigenheit entspricht. Denn was gibt es Wertvolleres als unsere Lebenszeit?