Oder: Von der inneren Landkarte eigener Wünsche
Mit dem Fluss des Lebens gehen, hört sich auf Deutsch für viele eher philosophisch-spirituell an, ist aber in sämtlichen Kunstformen essenziell. Im Flow sein, voll in dem Moment und so konzentriert auf die Tätigkeit zu sein, dass es rauschhaft wird. Die Außenwelt existiert nur noch verschwommen. Stach Szumski scheint dabei mit seinem Airbrush-Gerät zu verschmelzen, es wird quasi zur Verlängerung des eigenen Arms. So manifestiert der Künstler auf der Wand des Automat Artspace, was er in sich trägt und mit der hiesigen Wand verbinden möchte. Geübt schwingt er das Airbrush Gerät in einem feinen, kaum sichtbaren Rhythmus und ganz bestimmten Winkeln, was seine charakteristischen, Stromschlag- oder auch Korallen-artigen Linien entstehen lassen.
Schon seit 10 Jahren beschäftigt sich Stach damit Farbe über verschiedenste Arten des Sprühens zu nutzen, hat in eigenen Studien immer wieder versucht den für ihn interessantesten Effekt von Formen und Linien zu kreieren. „Natur spielt eine sehr wichtige Rolle, und zwar auf einer täglichen Basis“, sagt der Künstler im Interview immer wieder. Und zwar nicht nur als Inspiration für seine Kunst, für die er gerne durch Gebirge, Wälder oder auch an allen möglichen Arten von Gewässern entlang streift und in abgebrochenen Felswänden, holzigen Verästelungen oder Pflanzengewächsen, Formen entdeckt und innerlich speichert. Irgendwann – ungeplant und intuitiv – kommen sie in einer oder mehreren Strukturen seiner Malerei wieder zum Vorschein. Völlig verändert in neuer Umgebung und neuer Relation, aber dennoch wie ein Abbild seiner gesammelten bewussten und auch unbewussten inneren Bilder. Seine lebendig, fast explosiv erscheinenden Linien haben zwar einen unverkennbaren Stil, entstehen dennoch über Intuition, weil er sich beim Bearbeiten von Wänden, aber auch Gegenständen, wie aktuell Möbelstücken immer wieder neu auf das Material, die Form des Gegenstands und den Raum, in dem er gerade arbeitet, einlässt. „In den Flow zu kommen“, ist das wichtigste für Stach.
Das bedeutet für den Künstler vor allem, sich immer wieder möglichst unvoreingenommen, auf Unbekanntes einzulassen, zu Beispiel beim Reisen in alle möglichen Länder, Kultur- und Naturräume, aber auch beim täglichen freien unterwegs sein, zu Hause in der Natur des Riesengebirges in den Sudeten, wo er auch aufgewachsen ist. So hat er zum Beispiel schon mal Russland auf dem Fahrrad durchquert, um nach Japan zu kommen und baut sich aktuell ein eigenes Haus mit seiner Freundin und 1-jährigen Tochter, mitten in der traumhaften Landschaft, in malerischem Felsgestein, seiner Heimat.
Er hat zwar auch schon in Warschau gelebt, um zu studieren, hält ein pur städtisches Leben aber für sehr ungesund: „Der ganze Input, all die Informationen, all die Menschen, ihre Energien und Emotionen. Das ist im Grunde ein Overload an Daten“, sagt er, obwohl er eigentlich aus einem sehr urbanen Kunststil, dem Graffiti kommt. „Ich hab mit Buchstaben angefangen“, erzählt er, durfte schon früh mit dem Fotografen-Freund seines Opas durch polnische Graffiti-Hotspots touren und verschieden Styles kennenlernen. Das Studium war seine unproduktivste Zeit, erzählt er grinsend, denn grundsätzlich konnte er nie etwas mit dem verschulten Lernen anfangen. „Das war für mich wie ein Weiterentwicklungs-Stopp meiner Kunst.“ Immerhin konnte er hier aber verschiedene Medien ausprobieren.
Am wichtigsten für seine künstlerische Entwicklung waren seine Teenagerjahre, in denen er in Jelenia Góra (einem der wichtigen Entstehungsorte für Graffiti in Polen) zur Schule ging und einen Freund hatte, der schon früh „sehr futuristisch“ gesprüht hat. Mit 13 Jahren hat er dann selbst angefangen, zu Hause – mal an die Wand, mal auf Papier – seine ersten Sketches zu malen. Konzeptskizzen macht er heute nur noch selten, denn jahrelanges, freies Ausprobieren, hat aus ihm einen erfahrenen, autodidaktischen Sprüher gemacht, der Effekte von Nähe-Distanz, Schattierungen oder die Wirkung seiner körperlichen Sprühbewegungen verinnerlicht hat.
Im Automat Artspace hat er sich dem philosophischen Thema der allgegenwärtigen Vergänglichkeit gewidmet: Chamber of Decay (Zimmer des Verfalls/Zerfalls) heißt die Ausstellung, für die er zwei Wochen lang den kompletten Raum bis hin zum Fußboden mit einer stylischen Unheimlichkeit gefüllt hat. Scheinbar zuckende, blitzartige weiße Linien flackern auf tiefschwarzem Untergrund, gehen von der Decke bis über den Boden und lassen den Besucher in einen gefühlt endlose rissige Tiefe eintauchen. Während schwarze Skelette oder Skelett-Teile auf leuchtend weißen Sesseln und Sofas scheinbar sehr gelassen, vornehm und erhaben, auf die Wirren des Verfalls der Mauern um sie herum schauen. So als würden sie grinsend bereits wissen, was allen Lebenden noch verborgen bleibt. Auch diese letzten Reste des menschlichen Körpers hat der Künstler in akribischer Detailarbeit mit selbst hergestellten Schablonen gesprüht, die jedes einzelne Knöchelchen, jeden Wirbel und jedes Gelenk echt, schon fast 3-Dimensional wirken lassen. Dabei hat er für seine Schablonen einfach alte Papier-Stücke, die er gerade zur Hand hatte, in die passende Form gerissen. Ungeplant hat er so auch im Arbeitsprozess den Zerfall in seiner simpelsten Form – dem zerrissenen Papier – genutzt und mit den Händen gespürt, was auch das fertige Kunstwerk in einer filigranen, ausdifferenzierten Weise zeigt. Echter physischer Zerfall wird genutzt, um Zerfall künstlerisch aufzuarbeiten.
Solche ungeplanten Situationen, sind für Stach nicht nur in seiner Arbeitsweise, sondern auch im Leben Teil seines Antriebs und seiner Motivation. Selbst als es am Ende der zwei Arbeits-Wochen im Automat ziemlich knapp wird, zwei Tage vor der Vernissage noch kein einziges Möbelstück fertig ist, bleibt er gelassen. Wie er das macht? „In Stress-Momenten konzentriere ich mich einfach auf das reine Tun und denke nicht über einen möglichen schlimmen Ausgang nach.“
Das hat er von seinen Eltern gelernt, und natürlich auch selbst erfahren, dass das Leben dann Spaß macht, wenn man respektiert, dass man es nicht kontrollieren kann, die Unkontrollierbarkeit als Abenteuer und nicht als Hürde sieht. „Meine Eltern haben immer intuitive Entscheidungen getroffen, sind mit dem Flow gegangen und haben so auch ganz unkonventionelle Lebensentwürfe gelebt“, erzählt er. Beide kamen aus der Grafik, haben dann zusammen das erste Theater in seinem Heimatort aufgebaut. „Das Haus meiner Eltern war deshalb immer voll mit Schauspielern, die bei uns gewohnt haben.“ Als Einzelkind eine wichtige Erfahrung, denn diese wurden für ihn eine große Familie, auch wenn keine Blutsverwandtschaft besteht. Er hat gelernt, dem Unbekannten zu vertrauen und über Selbstreflexion und bewusstes Beobachten seiner eigenen Erfahrungen Vertrauen entwickelt.
„Bevor ich etwas anfange, habe ich natürlich auch erst mal rationale Gedanken darüber, aber wenn es dann ans Malen geht, lasse ich diese los und konzentriere mich auf den Moment.“ Beim alltäglichen Arbeiten lenkt er seine Aufmerksamkeit bewusst auf das multisensuelle Wahrnehmen seiner aktuellen Umwelt und auf das nicht-Denkbare des Unbewussten, im Inneren, das nur Erspürbar ist. „Der Raum wird zur Architektur seines inneren Unbewussten“. So beschreibt der Kurator Timo Poeppel das Wirken des Künstlers. Und das lebt Stach auch genauso und sagt von sich selbst, dass er eigentlich nie langfristig plant.
„Natürlich hab ich Träume oder Ziele. Es ist eine Art Landkarte von Wünschen in mir. Im Alltag lasse ich diese aber los, gehe mit dem Moment, der gerade da ist.“ Vertrauen in seine eigene Intuition, dass da schon „was kommt, wenn er es braucht“ klingt fast kindlich naiv, beschreibt aber das Gefühl, dass etwas in einem selbst am besten weiß, wohin es im nächsten Moment gehen soll und wichtiger ist, als konditionierte, bewertende Gedanken darüber, wie was wann sein sollte. Er nimmt seine Arbeit ernst, ist immer auch demütig dafür, sie ausüben zu können, vergisst dabei aber nie sein Grundziel: Freude daran.
„Meistens hat sich nach ein paar Jahren, ganz ohne, dass ich es mit Druck forciert oder es selbst gemacht habe, mein Ziel erfüllt“, beschreibt er sein Vertrauen in das Leben, das zwar meistens ganz andere Wege wählt, als man es sich hätte erdenken können, aber ganz von selbst die richtige Richtung für uns wählt. „Es fühlt sich an, wie ein bisschen Schicksal, Bestimmung, aber oft auf eine ganz zufällige Art“, sagt Stach. Und das funktioniert über die eigene Sinngebung. Vertrauen in das, was man tut, entwickelt sich, wenn wir unserem Dasein an sich einen tieferen Sinn verleihen, vor allem in einer Zeit, in der all die äußeren Sinngebungen so fragil sind und unglaublich schnell wieder zerfallen. Und erst der Zerfall als Teil des Lebens macht uns selbst und den Moment erst so kostbar. „Chamber of Decay“ kann wie eine Hommage an diesen gefürchteten und dennoch so bestimmenden Aspekt im Leben gefeiert werden.